Kirsensituationen werden von den meisten Menschen emotional gut und ohne Schäden verarbeitet.
Dennoch ist grundsätzlich, in Analogie zu ähnlichen Ereignissen in der Vergangenheit, davon auszugehen, dass psychische Belastungen infolge der COVID-19-Pandemie in großen Teilen der Bevölkerung auftreten.
Dennoch sind viele dieser Reaktionen vor dem Hintergrund der realen Gefahren zunächst als nichtpathologische Reaktion auf ein außergewöhnliches Ereignis einzuordnen.
Laut internationalen Roten Kreuzes können folgende Reaktionen während einer Pandemie als nahezu normalpsychologisch angesehen werden:
- Ängste, krank zu werden und zu versterben;
- Ängste auch vor Symptomen und Erkrankungen, die relativ einfach behandelt werden können;
- Angst, durch das Aufsuchen von Einrichtungen der Gesundheitsfürsorge erkranken und versterben zu können;
- Sorgen, nicht mehr in der Lage zu sein, den eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten, während einer Isolation nicht arbeiten zu können oder gekündigt zu werden, weil der Arbeitgeber beispielsweise Angst vor Kontamination hat;
- Gefühle von Hilflosigkeit und Depression infolge von Isolation;
- Misstrauen und Ärger gegenüber allen, die mit der Krankheit in Verbindung gebracht werden;
- Stigmatisierung und Angst vor Patientinnen und Patienten, Gesundheitsfachkräften und Menschen, die Erkrankte pflegen;
- das Ablehnen von Ansprache durch Gesundheitsfachkräfte oder Freiwillige bis hin zu verbaler oder körperlicher Bedrohung von Helferinnen und Helfern. (Quelle: Dtsch Arztebl 2020; 117(13): A 648–54)
Vorerfahrungen, Erwartungshaltungen und Zukunftsprognosen, wie auch bestehende Vorerkrankungen, wirken sich auf die individuelle Bewältigung einer Krise aus.
Die Fähigkeit, Krisen zu bewältigen, beschreibt man in der Psychologie als Resilienz oder psychische Widerstandsfähigkeit. Als ihr Gegenstück wird Vulnerabilität (Verwundbarkeit, Verletzbarkeit) angesehen, die dann nach dem Vulnerabilitäts-Stress-Modell zu einer erhöhten Anfälligkeit für psychische Krankheiten führt. Davon sind insbesondere Menschen ohne intakte soziale Netzwerke betroffen.
Eine Krise wie die Corona-Pandemie führt dann schnell zu einer Verdichtung und Erhöhung der Zahl schwer betroffener Patienten mit verschiedenen Diagnosen. Zu den Gruppen die jetzt dekompensieren und sichtbar erkranken gehören viele alkoholkranke Menschen, vor allem wenn sie isoliert leben, sowie Angstpatienten und an einer Depression, Borderlinestörung oder Psychose erkrankte Menschen.
Als besonders bedrohlich werden meist der gefühlte Kontrollverlust, also Gefühle von Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein erlebt, Ängste vor Ansteckung (oft gefördert von Unkenntnis und Überbetonung bestimmter Wahrnehmungen), Einsamkeit und unerwartete finanzielle Risiken beeinträchtigen die Menschen auf dem Boden ihrer vorhandenen Reaktionsmuster und grundlegenden Einstellungen.
Beim Versuch Kontrolle zurückzugewinnen, handeln Menschen auf ganz unterschiedliche Weise – auch schon mal völlig irrational – z.B. mit Hamsterkäufen oder mit einfach gestrickten Erklärungsmodellen oder indem man sich nur noch in „Blasen“ gleichdenkender in Social-Media-Kanälen aufhält.
Während kämpferische, optimistische Menschen das Beste aus der gegebenen Situation zu machen suchen, erkranken die vorbelasteten Personen durch den Anstieg der Belastungen oder den Wegfall von Kompensationsmechanismen.
Die andauernden Einschränkungen im tätlichen Leben während der Corona-Pandemie (Ende offen) können einem schon ziemlich auf das Gemüt drücken. Dennoch können die meisten Menschen mit dem Rückgang persönlicher sozialer Kontakte oder dem Anstieg von Sorgen um die eigene Gesundheit oder die berufliche Zukunft relativ gut umgehen. Der latent Depressive z.B. erlaub sich da jedoch mehr negative Gedanken, grübelt mehr, was u.a. zu Schlafstörungen und nachfolgenden Konzentrationsproblemen, Kraftlosigkeit und sinkendem Antrieb führt. Die Spirale geht abwärts, bis dass kaum noch ein Ausweg oder Licht im Tunnelblick zu erkennen ist. Der fehlende Körperkontakt wird zu mangelndem Halt, das „sozial distanzing“ wird zur sozialen Isolation und Einsamkeit, zu mehr Raum für Phantasie, die alle möglichen Möglichkeiten offen hat. Zur Paranoia neigende Menschen bekommen dann leichter Wahngedanken, halten Verschwörungstheorien für glaubwürdig, driften in eine innere Parallelwelt ab. Menschen, die sich emotional instabil fühlen, die sich und ihre Anspannung schlecht selbst regulieren können, rasten mehr aus, reagieren Aggressiv. Bei eher ängstlich gestimmten oder gar angstkranken Menschen steigt die Angst ins fast unerträgliche, da ihr Bedürfnis nach Sicherheit in einer solchen Situation noch unmöglicher zu befriedigen scheint. Sind z.B. 0,1 % der Menschen im Ort positiv auf Corona getestet, sehen sie darin eine enorme Bedrohung, während sie die Betrachtungsweisen der anderen 99,9 % völlig aus den Augen verlieren.
Eine derartige Wahnehmungsverzerrung kennt man aus der Geschichte, z.B. als „Wunder von New York“:
Der Bürgermeister versprach die Verbrechensrate während seiner Amtszeit zu halbieren; was er tatsächlich schaffte. Während die Verbrechensrate also um 50 % zurückging, stieg die Berichterstattung über Kriminalität um 600 %. Am Ende der Amtszeit fühlten sich die New Yorker unsicher als zuvor.
In der Ambulanzen ist die Nachfrage nach Hilfe höher als in Vor-Corona-Zeiten, berichtet Prof. Chr. Mulert, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Gießener Uniklinikums (UKGM). Weiter berichtet er,
da psychische Erkrankungen nicht aufschiebbar sind, hätten sie Patienten stationär aufgenommen, die ohne die Corona-Situation mit ihren Problemen nicht in die Klinik kommen mussten.
(Quelle: Gießener Anzeiger, 8.10.2020)
Empfehlenswert:
Schauen Sie nicht stündlich in den Newsticker, was es Neues zu Covid-19 gibt – das macht zusätzliche Sorgen, während die realen Entwicklungen längere Zeitläufe haben. Nutzen Sie seriöse Quellen.
Vermeiden Sie eintönige Tagesabläufe.
Suchen Sie Alternativen zu den fehlenden sozialen Kontakten – z.B. Briefe, Mails, Videochats, Telefonate.
Perspektivwechsel und das verlassen altbekannter Muster kann sehr hilfreich sein. Setzen Sie dem Gefühl der Ohnmacht eigenes Gestalten entgegen – selbst wenn das gelegentlich heißt, eine Mund-Nasen-Bedeckung zu tragen. Besser noch, ein Projekt realisieren; mit dem Lebenspartner neue Dinge entdecken.
Spielen Sie wieder. Kochen Sie wieder selbst. Lesen Sie einander vor – sprechen Sie darüber.
Entdecken Sie die Krise als Chance. Entdecken Sie etwas Gutes im Schlechten. Positives zu sehen meint, das Faktische anzuerkennen (und möglicherweise etwas Gutes daraus zu machen). z.B. Reden Sie mal wieder darüber, wie es ihnen geht, wovon Sie träumen, was Ihnen gefällt – oder schauen Sie mal in den „Spiegel“ und entdecken, was Sie bei ihrem Partner sehen (was Sie vielleicht nervig finden oder verändern würden) und entdecken, was das mit Ihnen zu tun hat. usw.
Quelle: Detsches Ärzteblatt 2020; 117(13): A-648 / B-552, Petzold, M.B., Ströhle, A., Plag, J.